Das Ei

Der Raum ist pupurn. Wände leuchten schillernd und pulsieren leicht. Als fließe reines Licht durch ein Adergeflecht. Versteckt unter warmem Rot, intensivem Orange und tiefem Violett.

Ich atme. Die Wände ragen hoch empor, doch ihre Höhe kann mich nicht erschrecken. Ich atme. Ich bin tief verborgen unter Schicht um Schicht, weißen reinen Lichts, verdichtet in gekrümmten Schalen. Meine Eierschalen liegen ruhend über mir. Ein schützender Schild, der atmet. Wir saugen die Luft ein, im selben Takt. Ich bin verbunden mit dem Licht, es nährt mich und versorgt mich mit allem was ich brauche. Nichts fehlt mir, es mangelt mir an nichts. Ich wünsche nichts.

Alles ist perfekt. Die Temperatur ist wunderbar lau. Nicht zu viel Wärme, nicht zu wenig. Ich empfinde keinen Mangel. Ernährt werde ich, durchflossen von allen Nährstoffen die ich brauche. Brauche um zu wachsen. Und das tue ich, ich wachse.

Zuerst fällt es mir nicht auf. Ein schleichender Prozess. Ich ruhe in meinem Miniaturkosmos, die Augen geschlossen, in unscharfe Träume voll bunter Farben und hellem Licht gehüllt. Öffne ich meine Augen einen Spalt sehe ich ein Bild das sich kaum von meinen Träumen unterscheidet. Weißes helles Licht lässt mich die Augen nach kurzer Zeit wieder schließen. Zwischen Traum und Realität – ich kann kaum unterscheiden wann ich wache und wann ich wieder in Schlaf sinke. Irgendwann erwache ich sanft durch einen Druck an meinem linken Fuß. Ich beunruhige mich nicht, habe mich schnell abgefunden mit der sanften Wärme, die meine Fußsohle streichelt. Doch bald ist der Druck auch am anderen Fuß und sogar an meinem Kopf zu spüren. Ich erwache häufiger durch die Wärme, träume weniger.

Ich kann meinen Zustand immer weniger genießen. Mein ganzer Körper berührt nun die lichthellen Eierschalen die mich umgeben. Meine Augen blicken direkt durch die schmalen Spalte zwischen dem Weiß auf das tiefe Purpur dahinter. Bald blicke ich noch weiter, sehe dass sich das Rot und Violett lichtet, Tag um Tag, Stück um Stück. Als ich schließlich einen Fetzen einer ganz neuen Farbe erblicke packt mich zum ersten Mal ein Gefühl, dass ich erst noch kennen lernen soll, das uns alle begleitet. Die Angst. Wie ein weißer Blitz kommt sie über mich. Weil ich sie noch nicht kenne ist die Empfindung so intensiv, schnell schließe ich die Augen wieder und will Schutz suchen in einem Traum. Ich finde ihn immer schwerer, den Weg in den Schlaf.

Irgendwann fällt mir das Atmen schwer. Ich bin zu groß geworden für meinen Lichtpanzer. Dazu habe ich aber auch an Kraft gewonnen. Und an Mut. Mittlerweile traue ich mich öfter einen Blick auf die neue Farbe und den neuen Blick draußen zu wagen. Es ist blau. Ich sehe einen Streifen blau und viele Farben, die sich zu einem Bild formen. Es ist sehr plastisch, doch ich kann es nicht entschlüsseln. Ich bin zu weit weg und noch zu tief in meinen Schichten. Schichten aus Licht und Fetzen von Traum liegen über meinem Verstand wie eine warme schützende Decke. Ich fühle, bald bin ich so weit sie abzustreifen.

Als der Tag gekommen ist, weiß ich genau was ich tun muss. Ich merke es daran, dass ich so klar sehe. Viel klarer als jemals zuvor. Das Licht meiner Eierschale hat abgenommen. Aus dem strahlend hellen Leuchten ist ein schwaches Glimmen geworden. Viel heller ist das Licht von draußen. Jenem verheißungsvollen Ort mit einem großen Streifen blau. Das blau wandelt sich. Ich habe es lange bestaunt zwischen meinen Phasen des Schlafs. Heute ist es ein sehr helles blau, intensiv. Weiße Flecken bewegen sich darauf wie auf Bahnen. Heute fällt mir auch das tiefe Grün auf, ich sehe weiter als je zuvor. Der Spalt zwischen den Schalen muss sich vergrößert haben. Fast scheint mir die äußeren fremden Farben würden mich rufen. Sie ziehen mich an. Auf einmal habe ich doch einen Wunsch. Er schreibt sich in meinen Geist, fest und klar. Ich möchte nach draußen. Ich möchte diese bunte Weite sehen, die das tiefe Pupur und verschleiernde Licht meines Eis verdrängt.

Auf einmal kommt Bewegung in meinen Körper. Mit dem Wunsch kommt der Wille. Er drückt sich in zarten Bewegungen meiner Finger und Füße aus. Dann der Hände und auch des Rumpfes. Mein Kopf dreht sich leicht, die Augenlieder flattern. Ich bin kurz davor sie ganz zu öffnen. Weiter als jemals zuvor. Die Bewegungen sind noch ungelenk, ungeübt. Es ist furchtbar anstrengend, doch ich will mich keinen Moment ausruhen. Ich schöpfe Kraft aus einer inneren Quelle. Die lange Zeit in meinem Schutz aus Licht und Wärme, meinem kleinen hellen Heim hat mich gut genährt. Vorsichtig recke ich die Fingerspitzen durch den Spalt meiner Eierschalen. Ich fürchte mich nicht davor, den Schutzraum zu verlassen. Ich weiß, dass ich es tun muss.

Dann der Ausbruch. Es schmerzt ein bisschen als ich mich erhebe, mich aufsetze und aus meinem verglimmenden Ursprung – dem Ei aus Licht – auftauche. Ich sitze, recke meinen Kopf nach oben, heraus, herauf. Und dann fühle ich.

Da ist Licht. Ich spüre Wärme auf meinem Gesicht, meinen Schultern, den Schlüsselbeinen. Ich strecke vorsichtig die Arme danach aus. Es ist seltsam, ein unbekanntes Gefühl, dass meine Glieder mir gehorchen. Auf jeden spontanen Einfall und Impuls reagieren. Dann fühle ich etwas Unbekanntes. Ich zittere und die wohlige Wärme die ich fühlte ist Vergangenheit. Die plötzliche Kühle lässt mich zurückschrecken. Ich spüre ein Schütteln tief in mir drin. Meine Augen, noch halb geschlossen, werden feucht. Ich reiße sie auf und bin geblendet von Licht, den vielen Farben. Ein Chaos neuer Eindrücke, die mir entgegenströmen. Da sind nicht nur die Farben, es ist auch laut. So viele Laute drängen an mein Ohr. Durch die Eierschalen drangen sie immer nur gedämpft an mich heran. Jetzt höre ich rascheln und raunen, wispern und scharren, murmeln und rauschen.

Die Wärme kehrt mit einem Mal zurück, doch sie ist nicht so wie jenes Licht in meinem Ei. Zurück kann ich wohl nicht. Blicke ich auf die Überreste meines Ursprungs, sind da nur zerbrochene Schalen. Zerborstenes Weiß, verglommene Überreste eines großen Geheimnisses. Dieses stete sanfte Licht, so fühle ich, werde ich lange nicht wiederfinden. Hier gibt es nichts regelmäßig Sanftes. Wärme kommt und geht und ich gewöhne mich daran immer wieder zu frösteln. Meine Augen werden nicht mehr feucht. Ich gewöhne mich auch an das fremde Licht, die Farben und die Geräusche. Ich kann mich nun umsehen und staune.

Weites blau umgibt mich in der Höhe. Das saftige Grün ist der Grund auf dem ich sitze, umgeben von den Überresten meines Eis. Weiße Flecken ziehen vorbei und werfen manchmal Schatten auf mich, dann friere ich und fühle mich nicht wohl. Die angenehme Wärme, das weiß ich jetzt, kommt von einem wunderbaren Lichtpunkt, weit über meinem Kopf. Ein runder Fleck von reinem, blendendem Licht. Ich kann nicht lange hineinsehen.

Zuneigung erfüllt mich. Ich liebe das helle Licht, das blau, das grün und alles drum herum. All das. Ich sitze und lausche, will wissen woher all die zauberhaften Laute kommen. Was raschelt, was rauscht, woher kommt das leise klopfen. Meine Finger tasten Kühle, es ist angenehm. Ich greife in das Grün. Taste und fühle.

Nachdem ich meine neue Umgebung wahrgenommen habe, bin ich mir einer ungekannten Weite bewusst. Weite umgibt mich. Da ist nicht nur Blau und Grün in meiner nächsten Nähe. Ich sehe einen hellen Fleck nicht weit von mir. Er strahlt mir entgegen durch den Farbendschungel, den ich langsam entziffere. Er wird mir noch zueigen werden, das spüre ich. Doch dieser Fleck, was mag das nur sein? Er erinnert mich an das Ei. Ein Teil von mir gerät in Schwingung, erinnert sich beim Anblick des Flecks. Ich muss es herausfinden, muss ihn im Ganzen aus der Nähe sehen.

Ich richte mich auf und stehe zum ersten Mal. Wie ungekannt wie schwer ist diese Art sich fortzubewegen. Bald schnelle ich dem Boden zu und liege im weichen Grün. Es tut kaum weh, ist nur intensiv. Ein intensives Fühlen von dem kühlen Boden. Pflanzen wachsen dort, ich fühle sie an Armen und Beinen als ich inmitten von ihnen liege. Sie kitzeln meine Haut, die nichts kennt außer den schonend sanften Schalen aus purem Licht. Die Physis dieser Welt ist unglaublich für mich. Alles ist so lebendig, scharf und direkt. Es ist nicht unangenehm, doch ein Kontrast zu meinen verschwommenen Träumen.

Der Fleck wird größer und ich erkenne was ich schon ahnte. Ein ovaler Lichtfleck leuchtet mir in verschiedenen Schattierungen von Weiß entgegen. Purpurn leuchtet es von innen heraus. Ein dunkler Schatten bewegt sich in dem schillernden Gebilde. Er ist verschwommen, ähnlich meinen frühen Traumbildern. Erst nach längerer Betrachtung sehe ich Arme und Beine, einen Kopf. Ich spüre wie mein Mund sich nach beiden Seiten spreizt und sich öffnet. Ein Laut ertönt aus meiner Kehle. Ungekannt. Ich kann nicht sprechen, nichts sagen. Doch Lachen kann ich. Der Ausdruck meiner tiefen Freude. Denn ich weiß: Bald wird die verschwommene Gestalt, die nun zur Ruhe gekommen ist, sich wieder regen. Auch sie wird wachsen, bis sie ihre Schalen sprengt. Und dann werde ich da sein und die Gestalt begrüßen. Ich bin nicht allein.

Vor Freude lasse ich mich fallen und rolle lachend durch das Grün.